War ich ja hier noch davon ausgegangen, dass das Jahr 2022 seine nun wirklich besten Tage hinter sich gelassen hat und es keine weiteren Ausfahrten mehr geben wird – wer jetzt keinen Ölwechsel gemacht hat, der macht keinen mehr, frei nach Rilke -, hatte auch ich nicht mit den unberechenbaren Launen des Klimawandels gerechnet: Deutschland steht seit Wochen unter dem Eindruck eines “Beton-Hochs”, wir haben bis zu 17 Grad im Schatten. Im November!
Nun muss man den Klimawandel nehmen, wie er uns auf den Pelz brennt. 17 Grad am Volkstrauertag, das ist tatsächlich einmal eine Ansage, über die man sich Sorgen machen muss. Muss man, natürlich.
Aber was vertreibt die Sorgen am allerbesten? Motorradfahren. Also ab auf den Bock und los in Richtung “Scheppen”, DeeJay hat eine Route ausgearbeitet, und schöner – nein, schöner kann es in diesem Jahr nicht mehr werden.
Doch auch 17 Grad im Schatten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es – November ist. Die Sonne hängt tief, bis zum kürzesten Tag im Jahr ist es kaum mehr als ein Monat hin, und so langsam hängen einem die Spekulatiuskekse und Dominosteine auch schon wieder aus dem Hals raus. Zumal das Wetter ja eigentlich nach Caipirinha unterm Weihnachtsbaum verlangt.
Aber tief hängende Sonnen sind tief hängende Sonnen, und sie scheinen, ob es nun Frühling oder Spätherbst ist: immer ins Gesicht, und immer wieder kommt es vor, dass man nichts, aber auch gar nichts sieht.
Wenn Du das Licht am Ende siehst – lauf nicht hin, heisst es. Aber von Motorradfahren hat keiner was gesagt, also kurz am rechten Hahn gedreht und: ab in die Sonne! In Kalenderwoche 46! Also so viel steht nach dieser Ausfahrt fest: früher war auch nicht alles besser – wann konnte man schon mal mit dem Weihnachtsgeld in der Tasche mit offenem Visier Motorrad fahren?
Los geht es in die Richtung, in die es im Ruhrgebiet immer losgeht – Richtung Süden, Richtung Bergisches Land. Denn wie heißt es im Kinderreim: im Osten geht die Sonne auf, im Süden, nimmt sie ihren Lauf im Westen, will sie untergeh’n im Norden, ist sie nie zu sehen. Na, da nimmt man doch am Sonntagmorgen am besten den Weg in die Richtung, in der die Sonne scheint, denn sie ist ja schließlich der Grund, weshalb wir uns getroffen haben.
Also schlängeln wir uns durch die Gegend – durch Orte, bei denen man sich fragt, ob man tatsächlich mitten einem der größten Ballungsgebiete Europas unterwegs ist: Böckenbusch, Kaulenbusch und Denberg – seltsame Ortsnamen sind es, die wir passieren, und es würde uns bei “Im Örk” auch nicht wundern, wenn da links am Wegesrand zwei Hobbits vorbeilaufen würden, um wertvolles Geschmeide in einen Vulkan zu werfen. Tun sie nicht, trotzdem ist es vielleicht besser, sich hier nicht mit den am Straßenrand Laufenden zu verbrüdern. Sie könnten uns ihr Ziel verraten – wir aber wollen, noch, den Weg.
Bis Irgendwann im Nirgendwo einer verloren geht. Über die Hintergründe wollen wir betreten schweigen, aber wir sind kurz hinter “Schacht Hövel” gezwungen, anzuhalten. Keiner bleibt zurück, und während die einen zurückfahren, um die verlorene Seele wieder auf den rechten Weg zu bringen, rasten die anderen an der Bushaltestelle. Nicht wirklich mit schlechtem Gewissen: auch wenn hier zwei Busse fahren mögen, am Sonntag nachmittag scheint es nach dem Fahrplan ausgeschlossen, dass an der Haltestelle “Schnee/Quellenburg” demnächst jemand einsteigen will.
Geschweige denn aussteigen. Oder doch? Vielleicht die Person, die das Fahrrad an den Laternenmast angeschlossen hat mit einem Sicherheitsbügel, der – nun ja, die Kriminalität in Quellenburg scheint überschaubar zu sein. Schön für den Ort – uns zieht es, endlich wieder vereint, weiter, weiter in Richtung Haßlinghausen, Hilgenplatz und Büttenberg. Spannender wird es also nicht wirklich. Jedenfalls nicht nach den Ortsnamen.
Denn auf uns wartet ein Kaffe, irgendwo zwischen Mönninghof und Möllenkotten und ganz in der Nähe von Schwelm, von Menschen gebrüht, die einen viel zu feinen Charakter haben, als dass sie an dieser Stelle benannt werden sollen. Aber soviel sei gesagt: Habt dank, Ihr Guten Menschen, für Speis und Trank am Wegesrand – was wäre dieser Tag gewesen, ohne von Eurer Terrasse aufs Tal der Fastenbecke zu schauen?
Solchermaßen gestärkt geht es weiter – Königsfeld, Mühlinghausen und Peddenode, beschauliche Orte, vom herrlichen Wetter wunderbar in Szene gesetzt. Aber das Leben pulsiert nicht in ihnen, sondern unter uns: entlang der Ennepe. Über Altenbreckerfeld, Halver, Wipperführt – die Kurven nehmen kein Ende, die Freude scheint grenzenlos. DeeJay fährt auch mal die ein oder andere Nebenstraße.
Bei denen ich mich als “Cruiser”-Fahrer zunächst frage, wieso ich mir DIESE Kutte angelegt habe – und nicht bei Menschen Unterschlupf gesucht habe, die für Mopeds wie mich ein Zuhause bieten. “Eisdielenposer Bergeborbeck” – zum Beispiel. Da wird man jedenfalls weniger durchgeschüttelt. Aber ob es da schöner ist? Haben die Eisdielen heute überhaupt noch auf? Oder steht man da mit seinem Bock vor leerer Türe?
Fragen über Fragen, und was uns von ihrer Beantwortung ablenkt, ist klar: blanke Physik. Was rein muss, muss irgendwann auch wieder raus. Und was durchgeschüttelt wird, strebt nach Ruhe – die dritte Pause des Tags gibt’s an der “Röttenscheider Höhe” bei Hückeswagen/Radevormwald.
Tja, und da ging sie dann schon merklich unter, die Sonne, bei immer noch wohligen 16 Grad. Vollkommen surreal ziehe ich zwei der fünf Zwiebelschalen aus, die ich noch heute morgen angezogen habe, weil es einem bei fünf Grad im Schatten nicht warm ums Herz wird, wenn es gilt, einen japanischen Zweizylinder-Reihenmotor zu überreden, irgendwann nach 20 Kilometern dann doch mal auf Betriebstemperatur zu kommen.
Da bin ich schon lange angekommen, und die Sonne, die Gute, hat das Feuer für diesen Tag um 15:00 Uhr im Wesentlichen verbrannt. Wir einigen uns darauf, uns peu a peu zu trennen, und während wir links von uns die Bevertalsperre lassen, biegen mehr und mehr von uns rechts ab und gehen ihrer eigenen Wege nach Hause.
Recht habt ihr, auch wenn die Sonne scheint wie Anfang März: wir haben Mitte November, und langsam wird es an den Füßen auch kalt.
Und die Moral von der Geschichte? Der Klimawandel ist eine beängstigende Sache. So toll, wie es heute war, sollte es im November nicht sein. Aber man muss die Krisen nehmen, wie sie kommen: und besser hätte es deshalb am heutigen Tag nicht werden können.
Zumal mich, beim Einfahren des Mopeds in die Garage, dann doch eine Gewissheit überkommt: das war das letzte Wochenende in diesem Jahr, an dem Du sie herausgeschoben hast. Also habe ich die Batterie ausgebaut und im Keller an ein Erhaltungsladegerät gehängt. Am nächsten Wochenende wird sie gewaschen und für die kalten Tage eingemottet – dann mag sie in ihren Winterschlaf treten und schlummern, bis es – na, wann? Februar? März? – wieder aufgeht, an wundervollen Tagen zu atemberaubenden Touren. Mit herrlichem Sonnenschein. So wie heute.
Ein bisschen Wehmut überkommt mich dabei. Aber auch die Freude auf das Versprechen eines neuen Jahres, in dem es weiter geht.